Glatzer oder der hektische Stillstand | Cantus Verlag
Drama, Theater / Drama

Glatzer oder der hektische Stillstand

Politfarce in zwölf Bildern

Autor: Hans Wallow
Instrumentierung: keine
Dauer: abendfüllend
UA: 1998, Uraufführung im Stadttheater Brandenburg
DE: 1998, Uraufführung im Stadttheater Brandenburg

Cantus Empfehlung: Wenn aber sittliche Kraft den Staat lenkt, was kann es Herrlicheres geben? Wenn der, der über andere gebietet, selbst keiner Leidenschaft Knecht ist, wenn er alle die Aufgaben, zu denen er die Bürger anhält und beruft, selber ganz beherrscht, und keine Gesetze dem Volk auferlegt, denen er selbst nicht gehorcht, sondern sein persönliches Leben wie ein Gesetz seinen Mitbürgern vorlebt? (Cicero)

Kurzbeschreibung

Am Beispiel der fiktiven Figur Georg Glatzer will Hans Wallow die Politikskandale und Mechanismen des Staatsapparates, die Automatismen und Abhängigkeiten im Machtbetrieb aufspießen. „Ich stelle die Verquickung von Interessen dar. Denn wir alle werden nur von Funktionären beherrscht, nicht von schöpferisch tätigen Menschen.“

So zeichnet Wallow das Schicksal eines Abgeordneten auf, der im Parlamentsbetrieb zerrieben wird und zum Schluss eine lächerliche Figur abgibt. „Glatzer muss sich erst zum Autisten entwickeln, bevor er zum Staatssekretär wird“.

Da fällt der grelle Bühnenscheinwerfer auf einen Parlamentarier, der zwischen Wahlkreis, Bundestag und Partei rotiert, der sich „wie ein Schaf“ im Gatter von Koalitions- und Klüngelrunden eingesperrt fühlt und die einzig schönen Augenblicke mit seiner Sekretärin Juliane erlebt. (Mitteldeutsche Zeitung –Günter Werz 06.02.2001)

Besetzung/Rollen/Charakter

Personen:

  • Georg Glatzer: ein durchschnittlicher Abgeordneter, der nach oben will
  • Juliane Blaschkowitz: Glatzers wissenschaftliche Mitarbeiterin, Bettgefährtin und entlaufene DDR-Bürgerin
  • Josef-Maria Wollnik: Politischer Korrespondent eines privaten Fernsehsenders, Glatzers Freund und bekennender Wiener
  • Friederike Glatzer: Glatzers vornehm tuende Ehefrau mit einer Vorliebe für die Toskana
  • Dr. med. Heinrich Schulze-Lohoff: Parlamentsarzt und Dozent für Psychiatrie
  • Leona Glatzer: Tochter von Georg und Friederike Glatzer, erst will sie eine Familie haben, entdeckt aber die Politik
  • Udo Krombacher: Staatsminister und Strippenzieher im Bundeskanzleramt
  • Detlev Kasischke: Ministerialdirektor im Wirtschaftsministerium
  • Prof. Dr. Edelgard Mürkel: Militärbischöfin und als Fachfrau für Ethikfragen, Mitglied der nationalen Ethikkommission
  • Heinz Saxowski: ehemaliger Betriebsratsvorsitzender der AWI-Hütte und Mitglied des Aufsichtsrates des VAG-Konzerns
  • Dr. phil. Eduard von Bock: als Abgesandter des BDI Mitglied der nationalen Ethikkommission
  • Ralf Odental: der grüne Freund Leonas
  • Bundeskanzler: Wir sehen ihn nur als Schatten, vielleicht mit der Zigarre

Hinweis: Bundeskanzler und Parlamentsarzt können vom selben Schauspieler verkörpert werden.

Bühnenbild/Inszenierung

Bühne:

Ideal ist eine Guckkastenbühne mit einem Doppel- oder Dreifachvorhangsystem, das erlaubt, einzelne Abschnitte freizugeben.

Ausführliche Synopsis

MdB Glatzer ist ein aufstrebender Parlamentarier: Sein Fleiß und seine Umtriebigkeit haben ihm im Wahlkreis und bei seiner Fraktion im Deutschen Bundestag Respekt verschafft. Als „Normalo” könnte er in allen Parteien anzutreffen sein. Man schätzt seinen Riecher für kommende Themen. Aber als strebsamer Individualist macht er sich immer wieder unbeliebt. Seine Assistentin dagegen liebt und bewundert ihn und hat mit ihm nicht nur ein Arbeitsverhältnis. Seine Frau Friederike – „von höherem Stand und Bildung” – sieht ihn und seine Politik kritisch, setzt aber auf seine Karriere.

Der Studioleiter eines privaten Fernsehsenders, Josef-Maria Wollnik, stützt ihn und verspricht sich von seinem Aufstieg einen-Posten als Programmdirektor – wohl wissend, dass Glatzer Konkurrenten im Wahlkreis und in Andreas Zjloh einen mächtigen Gegner in der Fraktion hat. Der, als Vorsitzender der Fraktion, hält Glatzer für einen unsicheren Kantonisten, einen ‘Floating voter’, jemanden, der es gelegentlich zu ernst nimmt mit der im Grundgesetz garantierten Gewissensfreiheit des Abgeordneten. Glatzer, mit seiner guten Witterung, spürt schon den kommenden Konflikt zwischen ihm und dem Bundeskanzler. Er weiß aber noch nicht, ob und wie er ihn für sich nutzen kann.

Glatzers zunehmende Impotenz steht für die Machtlosigkeit der Parlamentarier. In dieser kastrierenden Realität wird die Verformung des Menschen durch den politischen Betrieb sichtbar. Der Zuschauer muss sich fragen, wieviel Korruption, Intrigen verträgt ein Politiker und damit oder anders gesagt: die junge deutsche Demokratie? Wie verhält sich ein Politiker, wenn seine Moral gefragt ist?

Presse

Satire auf der Bühne: Ein Pistolero gegen den Politik-Betrieb

Von Günter Werz, 06.02.2001, Mitteldeutsche Zeitung


Das Opus Delicti

Von Christiane Grefe
8. Februar 2001, Quelle: DIE ZEIT, 07/2001

Viel Lärm um eine Uraufführung in Brandenburg: Hans Wallow, SPD, hat ein Stück geschrieben, dass sich wie eine Satire auf Gerhard Schröders Machtkampf liest.


„Und fertig ist die Macht“
Ein ehemaliger PR-Mann der Bundesregierung setzt das Gekungele zwischen Politikern und Journalisten auf der Theaterbühne in Szene – am Ende steht sein eigener Abgang: Der Fall Hans Wallow

1. Juni 2001 von Johannes Nitschmann, Verdi

Szenen der Berliner Medien-Republik. Mit dem Theaterstück „Glatzer – oder Der hektische Stillstand“ hat der Autor Hans Wallow ein Tabu-Thema auf die Bühne gebracht: Wie Politiker mit Journalisten umgehen. Ein umstrittenes Stück über das kunstvoll inszenierte Medientheater und die lächerliche Getriebenheit des politischen Personals in der Regierungs-Hauptstadt.


Das System ist der Skandal

von Thomas Höft, dem künstlerischen Leiter des Brandenburger Theaters

Hans Wallows „Glatzer“ ist eine Herausforderung – für die bundesrepublikanische Gesellschaft an sich wie im Speziellen für den Theaterbetrieb. Seit Monaten gastiert es scheinbar wie eine Chimäre durch die Medienwelt, wird kommentiert und vorab analysiert, auch von Menschen, die es nicht gelesen haben – nicht gelesen haben können; denn der Autor hat es zu Recht unter Verschluss gehalten. Hat immer wieder daran gearbeitet, um dem eigenen Anspruch zu genügen, der bei weitem nicht nur ein politischer, sondern auch ein künstlerischer ist.

Der „Glatzer“-Text besteht aus verschnittener Realität. Einer Realität der Verformung von Menschen durch den politischen Betrieb, der Hans Wallow etwas Außerordentliches in der Beschreibung mitgeben kann: eigene Erfahrung. Der Autor war Teil des Systems, das er kritisiert. Aber nicht als typischer Betroffenheitsliterat, sondern als ein Dokumentarist mit kühlem, präzisem Blick.

Wallow hat genügend Abstand, um die große Krankheit hinter den vielen kleinen Symptomen zu entlarven. Darin liegt die wahre Brisanz seiner Arbeit. Die gierige Suche nach vermeintlichen Insiderinformationen über den einen oder anderen politischen Weggefährten mag den Blick verstellen auf Wallows grundsätzlichen Ansatz: Nicht wer wem Geld oder Posten zugeschanzt hat, wird aufgedeckt; „das System selbst ist der Skandal!“ sagt Wallow und erweist sich darin als aufbegehrender Fortdenker des französischen Poststrukturalismus.

Virtuelle Realität, die vorgeblendete Medienwirklichkeit der Inszenierung Politik – all das ist theoretisch von Baudrillard und anderen akribisch beschrieben worden. Wallows Collagen und Zitate aus dem Bundestagsumfeld treten den Beweis der Theorie an. Seine Figuren sind Lemuren, graue Gestalten, die beim Rotlicht der Kamera zum Leben erwachen, um bei der Abblende wieder in ihre echte, untote Wirklichkeit zu verfallen. Eine entsetzlich langweilige, entfremdete und nur durch die Droge Macht in Besinnungslosigkeit zu ertragende Lebenswirklichkeit. Doch Hans Wallow gibt sich – und das ist sein Auftrag an das Theater – mit dieser Realität nicht zufrieden. Er ist ein Kämpfer gegen die Verblendung, gegen die Erstarrung. Er will ein politisches Theater. Zum Glück. Hier liegt eine immense Herausforderung an uns Theatermacher.

„Glatzer“ ist ein dokumentarisches Drama. Ein Stück, das die Banalität des politischen Alltags zum Thema hat, die Mittelmäßigkeit, die Langeweile, das normale, kleine Elend. Das oft, sehr oft, lächerlich und komisch wirkt. Das wahre Entsetzen entsteht aus dem Subtext. So wird also regiert. So werden also Entscheidungen getroffen, die Deutschland prägen. Europa, Millionen von Menschen direkt in ihrem Leben beeinflussen. Die alten Antworten greifen nicht; nicht „das Kapital“ regiert als personifizierbare kleine Gruppe von benennbaren Dunkelmännern, sondern eine undurchschaubare verfilzte Interessengruppen- und Lobbyistenmelange, die über „Sachzwänge“ ein redundantes, sich selbst erhaltendes und sich selbst spiegelndes Wesen erschaffen hat, das man deutsche Politik nennt. Diese Oberfläche hat Hans Wallow abgezeichnet, aufgeschrieben. Und das ist fast unerträglich.

„Glatzer“ ist ein für Politiker unerträgliches Stück. Weil es die Augen öffnet. Hans Wallows „Glatzer“ muss aufgeführt werden. Ich werde das Stück im Februar herausbringen und bin stolz darauf, es in meinem Theater zu haben.

 

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