Glatzer oder der hektische Stillstand | Cantus Verlag

Neu im Theaterverlag – Glatzer oder der hektische Stillstand

Das System ist der Skandal

Hans Wallows „Glatzer“ ist eine Herausforderung – für die bundesrepublikanische Gesellschaft an sich wie im Speziellen für den Theaterbetrieb. Seit Monaten gastiert es scheinbar wie eine Chimäre durch die Medienwelt, wird kommentiert und vorab analysiert, auch von Menschen, die es nicht gelesen haben – nicht gelesen haben können; denn der Autor hat es zu Recht unter Verschluss gehalten. Hat immer wieder daran gearbeitet, um dem eigenen Anspruch zu genügen, der bei weitem nicht nur ein politischer, sondern auch ein künstlerischer ist.

Der „Glatzer“-Text besteht aus verschnittener Realität. Einer Realität der Verformung von Menschen durch den politischen Betrieb, der Hans Wallow etwas Außerordentliches in der Beschreibung mitgeben kann: eigene Erfahrung. Der Autor war Teil des Systems, das er kritisiert. Aber nicht als typischer Betroffenheitsliterat, sondern als ein Dokumentarist mit kühlem, präzisem Blick.

Wallow hat genügend Abstand, um die große Krankheit hinter den vielen kleinen Symptomen zu entlarven. Darin liegt die wahre Brisanz seiner Arbeit. Die gierige Suche nach vermeintlichen Insiderinformationen über den einen oder anderen politischen Weggefährten mag den Blick verstellen auf Wallows grundsätzlichen Ansatz: Nicht wer wem Geld oder Posten zugeschanzt hat, wird aufgedeckt; „das System selbst ist der Skandal!“ sagt Wallow und erweist sich darin als aufbegehrender Fortdenker des französischen Poststrukturalismus.

Virtuelle Realität, die vorgeblendete Medienwirklichkeit der Inszenierung Politik – all das ist theoretisch von Baudrillard und anderen akribisch beschrieben worden. Wallows Collagen und Zitate aus dem Bundestagsumfeld treten den Beweis der Theorie an. Seine Figuren sind Lemuren, graue Gestalten, die beim Rotlicht der Kamera zum Leben erwachen, um bei der Abblende wieder in ihre echte, untote Wirklichkeit zu verfallen. Eine entsetzlich langweilige, entfremdete und nur durch die Droge Macht in Besinnungslosigkeit zu ertragende Lebenswirklichkeit. Doch Hans Wallow gibt sich – und das ist sein Auftrag an das Theater – mit dieser Realität nicht zufrieden. Er ist ein Kämpfer gegen die Verblendung, gegen die Erstarrung. Er will ein politisches Theater. Zum Glück. Hier liegt eine immense Herausforderung an uns Theatermacher.

„Glatzer“ ist ein dokumentarisches Drama. Ein Stück, das die Banalität des politischen Alltags zum Thema hat, die Mittelmäßigkeit, die Langeweile, das normale, kleine Elend. Das oft, sehr oft, lächerlich und komisch wirkt. Das wahre Entsetzen entsteht aus dem Subtext. So wird also regiert. So werden also Entscheidungen getroffen, die Deutschland prägen. Europa, Millionen von Menschen direkt in ihrem Leben beeinflussen. Die alten Antworten greifen nicht; nicht „das Kapital“ regiert als personifizierbare kleine Gruppe von benennbaren Dunkelmännern, sondern eine undurchschaubare verfilzte Interessengruppen- und Lobbyistenmelange, die über „Sachzwänge“ ein redundantes, sich selbst erhaltendes und sich selbst spiegelndes Wesen erschaffen hat, das man deutsche Politik nennt. Diese Oberfläche hat Hans Wallow abgezeichnet, aufgeschrieben. Und das ist fast unerträglich.

„Glatzer“ ist ein für Politiker unerträgliches Stück. Weil es die Augen öffnet. Hans Wallows „Glatzer“ muss aufgeführt werden. Ich werde das Stück im Februar herausbringen und bin stolz darauf, es in meinem Theater zu haben.

Von Thomas Höft, dem künstlerischen Leiter des Brandenburger Theaters


Am Beispiel der fiktiven Figur Georg Glatzer will Wallow die Politikskandale und Mechanismen des Staatsapparates, die Automatismen und Abhängigkeiten im Machtbetrieb aufspießen. „Ich stelle die Verquickung von Interessen dar. Denn wir alle werden nur von Funktionären beherrscht, nicht von schöpferisch tätigen Menschen.“

So zeichnet Wallow das Schicksal eines Abgeordneten auf, der im Parlamentsbetrieb zerrieben wird und zum Schluss eine lächerliche Figur abgibt. „Glatzer muss sich erst zum Autisten entwickeln, bevor er zum Staatssekretär wird“.

Da fällt der grelle Bühnenscheinwerfer auf einen Parlamentarier, der zwischen Wahlkreis, Bundestag und Partei rotiert, der sich „wie ein Schaf“ im Gatter von Koalitions- und Klüngelrunden eingesperrt fühlt und die einzig schönen Augenblicke mit seiner Sekretärin Juliane erlebt.

Mitteldeutsche Zeitung – Günter Werz 06.02.2001


Mehr zur Politsatire „Glatzer oder der hektische Stillstand“ finden Sie in den Theatertexten des CANTUS Verlags.

zurück zur Übersicht